Deutschland vor dem Streik

Hans-Werner Sinn

Project Syndicate, 6. September 2007

Deutschland ist ein Land, in dem sehr wenig gestreikt wird. Während auf tausend Beschäftigte im Schnitt der Jahre 2000-2004 in Spanien 234, in Kanada 171 und in Frankreich 101 durch Streik verlorene Arbeitstage kamen, zählte man in Deutschland nur 3,5 verlorene Tage. Damit lag Deutschland an der drittletzten Stelle der OECD-Streik-Statisitk, knapp vor Polen und Japan, die auf 1,6 und 0,4 Tage kamen.

Umso mehr versetzt es das Land in Unruhe, dass sich nun die Lokführer der deutschen Bahn in einer Urabstimmung für einen deutschlandweiten Streik ausgesprochen haben, der das Land paralysieren würde. Die Lokführer werden durch eine eigene Gewerkschaft, die GDL, vertreten. Die GDL ist nicht mit dem Verhandlungsergebnis der Gewerkschaften Transnet und GDBA einverstanden, die bereits vor kurzem einen Tarifvertrag für alle Bahnbediensteten ausgehandelt haben, sondern wollen einen eigenen Abschluss mit Lohnsteigerungen von 31%.

Zwar wurde der Streik per Gerichtsbeschluss temporär ausgesetzt, so dass noch eine Frist zum Verhandeln bleibt, doch ist die Streikgefahr groß, weil die Verhandlungen in eine Sackgasse gekommen sind. Einerseits hat sich die Lokführergewerkschaft GDL darauf festgelegt, für ihre Mitlieder mehr herauszuholen als nur den allgemeinen Tarifvertrag für alle Bahnbediensteten. Andererseits wird dieser bereits verhandelte Tarifvertrag ungültig, wenn mit den Lokführern ein höherer Abschluss erzielt wird, was das Management der Bahn unter keinen Umständen akzeptieren kann. Deutschland erwartet deshalb einen heißen Herbst.

Der angekündigte Streik könnte einen Paradigmenwechsel für den deutschen Arbeitsmarkt einleiten. Er hat aus zwei Gründen eine hohe strategische Bedeutung.

Zum einen könnte es sein, das andere privatisierte Staatsbetriebe, wie insbesondere die Post und die Telekom, folgen. Ehemals hatten sich die Staatsbetriebe auf das Berufsbeamtentum verlassen können, eine deutschen Besonderheit, die man anderswo so nicht findet. Beamte können nicht entlassen werden, aber sie dürfen auch nicht streiken. Das Arbeitsverhältnis ist durch eine besondere gegenseitige Treuepflicht gekennzeichnet. Der Status des Beamten wurde im preußischen Staat geschaffen, um strategisch wichtige Positionen mit Personen besetzten zu können, auf die man sich hundertprozentig verlassen konnte. Die Lokführer waren das Musterbeispiel dafür.

Mit der Privatisierung der deutschen Bahn, die in Kürze durch einen Börsengang zum Abschluss gebracht werden soll, verschwinden auch die Beamten. Zwar sind heute noch 40% der deutschen Lokführer Beamte. Sie wurden der privatisierten Bahn auf dem Wege eines Dienstleistungsvertrages überlassen. Doch reicht das Streikrecht der nicht beamteten Lokführer aus, Deutschland mit einem Verkehrschaos zu bedrohen.

Zum anderen ist der Vorgang insofern bemerkenswert, als sich Deutschland im Bereich der Bahn von seinem System der Branchengewerkschaften getrennt hat. Branchengewerkschaften verhandeln für alle Arbeitnehmer einer Branche, gleich welchen Beruf sie dort ausüben. Die Alternative liegt in Berufsstandgewerkschaften, die einzelne Berufe innerhalb der Branchen betreuen. Berufsstandgewerkschaften zeigen normalerweise ein besonders aggressives Verhandlungsgebahren und neigen dazu, weit über das ökonomisch Mögliche und Sinnvolle hinaus zu zielen.

Berufsstandgewerkschaften sind in manchen der angelsächsischen Länder üblich. Sie waren zu einem erheblichen Teil verantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Erst als Margret Thatcher das britische Gewerkschaftssystem zerschlug, konnte das Land wieder aufatmen und zu neuer Blüte kommen.

Der Grund dafür, dass Berufsstandgewerkschaften so schädlich sind, ist ökonomischer Natur. Solche Gewerkschaften verhalten sich wie Monopole, die komplementäre Güter anbieten. Weil der Kunde nur an der Summe der Preise interessiert ist, die er für alle Güter zusammen zahlt und die Menge der gekauften Einheiten des Bündels der komplementären Güter nur von dieser Summe abhängig macht, fühlt sich der einzelne Anbieter zu einer besonders aggressiven Preissetzung ermutigt. Wenn er den Preis erhöht, liegt der finanzielle Vorteil in voller Höhe bei ihm, doch der Nachteil in Form eines Nachfragerückgangs verteilt sich über alle Anbieter. Deswegen entsteht bei unabhängiger Entscheidung der Anbieter im Endeffekt eine Preissumme, die größer ist als jede, die von einem Monopolanbieter gewählt würde, der alle Produzenten gemeinsam vertritt und die wechselseitigen Nachteile aus der Nachfrageeinschränkung allesamt mitberücksichtigt. Ein Monopol ist für die Marktwirtschaft Gift, weil es die Preise erhöht und die Mengen senkt. Noch giftiger als ein einzelnes Monopol ist freilich eine Kette von Monopolen, die komplementäre Güter anbieten, denn sie erhöht die Preise und senkt die Mengen noch mehr.

Diese Erkenntnis lässt sich unmittelbar auf das Gewerkschaftsproblem übertragen. Branchengewerkschaften sind Monopolgewerkschaften, die alle Arbeitnehmer einer Branche gemeinsam vertreten. Sie setzten höhere Löhne durch, als es bei Konkurrenz möglich gewesen wäre, und schaffen dadurch Arbeitslosigkeit. Aber Berufsstandgewerkschaften, die unabhängig voneinander agieren, setzten noch höhere Löhne durch und schaffen noch mehr Arbeitslosigkeit. Die Löhne und die resultierende Arbeitslosigkeit sind so hoch, dass die Arbeitnehmer in ihrer Summe schlechter gestellt sind, als würden sie von einer einzigen Branchengewerkschaft vertreten.

Der Arbeitskampf der deutschen Lokführer zeigt, dass die Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe des Landes mit erheblichen Risiken für den deutschen Arbeitsmarkt verbunden ist. Sein Ausgang wird darüber entscheiden, ob sich Deutschland für Berufstandsgewerkschaften öffnet. Wenn das der Fall ist, dann könnten die Jahre gezählt sein, während derer das Land den drittletzten Platz in der internationalen Streikstatistik wird behaupten können.

Hans-Werner Sinn is Professor of Economics and Finance, University of Munich, and President of the Ifo Institute

Auch erschienen in:
The Korea Herald
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